Geschlechtergerechte Sprache
Ein Alternativvorschlag für die sog. "geschlechtergerechte" Sprache
MISS: Minimalinvasiv, sexussymmetrisch
Einführung
Die Veränderung des Deutschen weg vom jetzigen zur Bezeichnung des natürlichen Geschlechts von Personen dienenden System, das zumindest subjektiv als "männerlastig" empfunden wird sowie in jedem Fall objektiv nicht-binärgeschlechtige Personen ("divers", "3. Geschlecht") nicht klar bezeichnen kann, zu einer sog. "geschlechtergerechten" Sprachform ist in aller Munde, so dass sich eine weitere Einführung fast erübrigt. Hier nur einige wenige Definitionen und Hypothesen:
Geschlechtergerechte Sprache bedeutet, dass Sprachformen nicht eines der Geschlechter bevorzugen, indem die anderen verschwiegen oder nur mit merklich größerem Aufwand bezeichnet werden. Geschlechtergerechte Sprache gibt es entweder in der Form, dass die üblichen Sprachformen kein Geschlecht ausdrücken (z.B. engl. doctor), oder dass eben alle Geschlechter mehr oder weniger ähnlich verpflichtend ausgedrückt werden (isländ. -son bzw- -dóttir in Familiennamen). Solche Systeme kann man “symmetrisch” nennen.
Es ist weitgehender Konsens, dass geschlechtergerechte Sprache erstrebenswert ist, da sie
a) die erstrebenswerte inklusive Gesellschaft symbolisiert (man darf den symbolischen Wert der Sprache nicht unterschätzen, sie ist mehr als ein Werkzeug), sowie
b) auch erhofft, dass eine gerechte Sprache hilft, gesellschaftliche Ungerechtigkeiten zu reduzieren.
Das Wort “gendern” wird kurz für “eine geschlechtergerechte Sprache herstellen” verwendet.
Weitere Begriffe: Biologisches und heute parallel dazu auch soziales Geschlecht (“Gender”) bezeichne ich der Einfachheit halber als Sexus. Genus (grammatisches Geschlecht) hat damit erst einmal nicht viel zu tun, sondern bedeutet, dass Substantive in Klassen eingeteilt werden, für die für eine bestimmte Ausdrucksform jeweils bestimmte Regeln gelten (z.B. dass im Polnischen der Genetiv Plural für das Genus Maskulinum -ów lautet, für Femininum und Neutrum aber -Ø) und/oder die die Form begleitender Ausdrücke festlegen (Kongruenz, z.B. dass im Deutschen ein artikelloses Adjektiv auf -er, -e oder -es endet, je nach dem Genus des folgenden Substantivs). Die Aufteilung der Substantive auf die Klassen/Genera kann völlig willkürlich sein (der Löffel, die Gabel, das Messer), kann aber auch Kriterien der Bedeutung oder Form folgen. So finden sich im Lateinischen Bezeichnungen für Männer gewöhnlich im Maskulinum, für Frauen im Femininum – und daher kommt auch die metaphorische Bezeichnung als “männlich”, “weiblich” oder “neutral” (ne-utrum ‘keines von beiden’), die man nicht zu wörtlich verstehen sollte.
Als Hintergrund zum Gendern soll ein sehr lesenswerter, unideologischer Artikel (ab S. 44) von Gisela Zifonun vom Institut für deutsche Sprache Mannheim genannt und vorausgesetzt werden, sozusagen als Beschreibung des Ist-Zustands. Kurz zusammengefasst besagt der Artikel, dass 1) das Gendersternchen [Anglizismus des Jahres 2018] nach P. Eisenberg mehr eine "Anerkennungsgeste" als ein echtes sprachliches Mittel ist, 2) psycholinguistische Test zum "Beweis" der männlichen Dominanz beim generischen Maskulinum gewisse Konzeptionsfehler aufweisen, 3) das generische Maskulinum systematisch auf absehbare Zeit unverzichtbar ist (v.a. in Bezug auf die Wortbildung), aber 4) immer dort, wo Bezug auf oder Ansprache von konkreten Personen nötig ist, die Doppelformen dem generischen Maskulinum vorzuziehen sind. Es sei noch erwähnt, dass das generische Maskulinum sich außerhalb von Politik und manchen Medien guter Gesundheit erfreut, also bei Weitem noch nicht so obsolet ist, wie es scheint.
Kritik des Genderns
Ich möchte, bevor ich zu einem konkreten neuen Vorschlag für eine geschlechtergerechte Reform des Deutschen sowie meinem Gegenvorschlag komme, eine längliche Kritik des bisherigen Genderns, sowohl in Bezug auf dessen Begründung als auch auf dessen Umsetzung einfügen. Dass ich mit Vielem nicht einverstanden bin, was Leuten, die für Emanzipation kämpfen, sprachlich wichtig ist, soll dabei nie darüber hinwegtäuschen, dass ich deren Ziele einer gleichberechtigten Gesellschaft ohne (auch sprachliche) Diskriminierung völlig teile. Man kann den folgenden Abschnitt auch überspringen.
Das Deutsche drückt die Geschlechter asymmetrisch aus. Vor dem Hintergrund des einleitend Gesagten schiene es daher nur logisch, seine Ausdrucksweisen zu verändern, um ein gerechtes, symmetrisches System zu erhalten, und das ist ja auch das, was gerade in einem Teil der Sprachgemeinschaft massiv passiert. Tatsächlich gibt es aber sachliche Gründe, die dagegen und m.E. für den Erhalt, ja sogar Ausbau des generischen Maskulinums sprechen.
Dafür muss man zwei Fragestellungen betrachten:
1. Gibt es eine Korrelation zwischen symmetrischem sprachlichem Ausdruck und sozialer Geschlechtergerechtigkeit? Wenn dem nicht der Fall ist, fällt Argument b) (s.o.) für das Gendern weg.
2. Bedeutet sprachliche Asymmetrie, speziell im Deutschen, automatisch eine Ungerechtigkeit? Wenn dem nicht der Fall ist, wird auch Argument a) die Grundlage entzogen.
Ad 1.: Es gibt m.W. keine Studien, aus denen hervorginge, dass das immer stärkere Gendern in den westlichen Ländern einen positiven Einfluss auf den Abbau von Geschlechtsunterschieden oder auch nur -stereotypen gezeitigt hätte.
Darüber hinaus muss man auch noch die Sprachtypologie anschauen. Es gibt weltweit etliche Sprachen, die seit jeher implizit oder explizite symmetrische Systeme haben, ebenso wie es stark asymmetrische Systeme gibt. Es gibt keinerlei Korrelation zwischen diesem sprachlichen Detail und der Geschlechtergerechtigkeit in der jeweiligen Gesellschaft. Ungarisch ist sprachlich weitaus neutraler als Deutsch, in seiner Regierung (2021) gibt es aber keine einzige Ministerin. Noch extremere Fälle in der Skala sind Nepalesisch (symmetrisch) und Polnisch (asymmetrisch), doch nur in ersterem Land muss der Vater Nepalese sein, wenn man die Staatsbürgerschaft erwerben will. Die Beispiele ließen sich vermehren. Im Gegenzug heißt das übrigens nicht, dass Sprache nicht die zu Grunde liegende Kultur widerspiegeln kann (im Gegenteil, dieser Zusammenhang ist gut belegt), sich also mit einem Kulturwandel nicht auch wandeln könnte, aber das ist hier letztlich unerheblich, da solcher Sprachwandel dann sowie unbewusst erfolgt und nicht vorher forciert werden muss.
Kurz gesagt: Die Empirie sagt, dass es für den Status von Frauen und sexuellen Minderheiten egal ist, welche Sprache sie mit den Männern teilen. Gegenteilige Behauptungen aus der Genderforschung sind unbewiesen.
Ad 2.: (Hier muss ich ein bisschen ausholen. Ich habe Indogermanistik studiert, die sich mit den Ursprüngen der indogermanischen Sprachen und der Rekonstruktion ihrer prähistorischen Grundsprache beschäftigt.)
Im Urindogermanischen gab es ursprünglich nur zwei grammatische Geschlechter, ein Genus Commune und ein Genus Neutrum, die sich nur geringfügig unterschieden und weitgehend nach der Dichotomie belebt vs. unbelebt oder handlungsfähig vs. nicht-handlungsfähig verteilten. Dieser Zustand kann noch direkt in den altanatolischen Sprachen (Hethitisch usw.) beobachtet werden, die sich früh vom Urindogermanischen abgespalten haben. Das Genus Commune drückte also Männer wie Frauen gleichermaßen aus, in dem es eben implizit war. In der verbliebenen Sprachgemeinschaft (Phase des sog. Späturindogermanischen) gab es dann eine entscheidende sprachliche Innovation: Waren die biologischen Geschlechter bisher nur durch einzelne eigenständige Wörter zu kennzeichnen (sozusagen Medizin-Mann, Medizin-Frau), so entwickelte sich ein Suffix (aus einer abstrakten Zugehörigkeits- oder Kollektivbildung, vereinfacht gesagt ein *-ā), das es ermöglichte, zu jedem bestimmten Commune-Wort ein speziell weibliches hinzuzubilden (ähnlich wie engl. actor (m/w/...) – actress (w)). Das Genus Commune blieb in seiner Bedeutung damit dennoch erhalten, war also geschlechtsneutral und wurde, da es kein männliches Suffix gab, inklusiv für Männer mitverwendet. Ganz so klar blieb das System aber nicht lange, sondern zum einen rutschten Wörter mit anderer, nicht-weiblicher Bedeutung, aber ebendiesem Suffix *-ā auch in die neue Klasse hinein, zum anderen blieben auch weibliche Wörter ohne diese Endung, die aber die Kongruenzformen auf *-ā ebenfalls übernahmen.1
Langer Rede kurzer Sinn: Es entstand aus dem ursprünglichen Antrieb, Frauen gesondert zu kennzeichnen (vielleicht ein Reflex der damaligen patriarchalischen Gesellschaft), in recht kurzer Zeit eine neue Klasse für die Einteilung von Substantiven, die wir heute als Genus Femininum kennen. Das Genus Neutrum blieb gleich, und das, wir traditionell Maskulinum nennen, ist nichts als das alte Genus Commune.
Warum erzähle ich das alles? Darum: Vor diesem Hintergrund wird klar, dass das generische Maskulinum zu keiner Zeit ein Mittel war, um Männer im Speziellen auszudrücken (und andere nur “mitzumeinen”) und damit auch nicht ungerecht Frauen gegenüber. Andersherum wird ein Schuh draus: Weil es für Männer (u.a. Geschlechter als das weibliche) eben keinen einfachen Ausdruck gab/gibt, muss das sexusneutrale Genus Commune/Maskulinum herhalten. Das ererbte System des Deutschen funktioniert also so, dass bei Personenbezeichnungen, zu denen es eine Ableitung auf -in gibt, das Maskulinum i.d.R. (es mag einzelne Ausnahmen geben wie Adelstitel), sexusneutral ist und für alle Geschlechter gelten kann, während man Frauen mit der gesonderten Endung -in kennzeichnen kann.
Das letzte Wort ist hier entscheidend für das Thema Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache: Das System ist auch aus symbolischer Sicht einwandfrei – eben asymmetrisch, aber nicht diskriminierend (wenn überhaupt, könnten sich Männer über die fehlende Sichtbarmachung beschweren, das ist aber in der Praxis nicht der Fall) –, sofern man Frauen nicht kennzeichnen muss, sondern nur kann, wenn man will. Wenn man für Frauen immer die Form mit -in verwenden müsste (Sie ist Lehrerin – ich persönlich sage Sie ist Lehrer), dann kann das natürlich auch schlicht eine Kongruenzform sein (s. Fn. 1), es könnte aber auch symbolisieren, dass man2 Frauen als eine Art Sonderfall sieht, den man gesondert kennzeichnen müsste. Das wäre sexistisch. Interessanterweise fordern gerade Vertreter der Genderforschung aber die Muss-Regelung (in dem Bestreben, Frauen “sichtbar” zu machen) und interpretieren die generischen (Commune-)Formen im Maskulinum als rein männlich. Aber paradoxerweise wird erst durch diese Interpretation des sprachlichen Befunds aus der gerechten Asymmetrie ein ungerechtes, männerzentriertes System. Man könnte zugespitzt sagen, die feministische Sprachwissenschaft hat das Problem, das sie lösen will (“Deutsch als Männersprache”), in diesem wichtigen Bereich überhaupt erst in dieser Schärfe generiert.3
Der Ersatz, der als Gendern angeboten wird, ist in jeder Hinsicht schlechter als das bisherige System. Die Doppelformen à la “Bürgerinnen und Bürger” legen die maskulinen Formen durch den Kontrast auf Männer fest. Gäbe es nur zwei Geschlechter, dann wäre das zwar umständlich, aber ebenso gerecht wie das generische Maskulinum (eben explizit statt implizit). Da es offiziell nun drei biologische und noch viel mehr soziale Geschlechter gibt, ist das explizite System aber problematisch, da es ganz eindeutig andere Geschlechter als männlich und weiblich nicht einschließt. Lösungen wie Binnen-I mit _ oder * sind rein schriftlich und daher nicht allgemein geeignet. Vor diesem Hintergrund muss die Verwendung der Doppelformen in der Anrede, wie sie in der Politik schon Standard ist, in Frage gestellt werden. Auch wenn dies unpopulär klingen mag, spricht man mit "liebe Mitbürger" emanzipierter als mit "liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger".
Kurz gesagt: Das generische Maskulinum ist von seiner Herkunft und seinen Eigenschaften her nicht nur die einfachste, sondern auch die gerechteste Art, wie man im Deutschen Personen jeden Geschlechts bezeichnen kann. Die Alternativen aus der Genderbewegung sind sprachlich und/oder sachlich schlechter.
Es gibt natürlich noch weitere sprachliche Aspekte zu betrachten, z.B. genauer den (Nicht-)Zusammenhang von Genus und Sexus (er, sie, es verweisen zunächst einmal auf das Genus, nicht den Sexus), dies ist aber nun nicht so erheblich.
Ich will hier nur die Fakten darstellen und nichts daraus schlussfolgern, es sollte aber klar geworden sein, dass das Gendern in seiner heutigen Form weder zweckmäßig noch nützlich ist, vielmehr müsste das generische Maskulinum durch konsequenten Gebrauch gestärkt werden, denn sonst droht ein Zwischenzustand, in dem die alte geschlechtsneutrale Ausdrucksweise bereits zerstört ist, ein adäquater Ersatz aber noch nicht etabliert.
Anmerkungen:
1 Ansätze zu einem solchen Sprachwandel lassen sich auch im Deutschen finden, wo die weibliche Endung -in eigentlich genau die sexusindizierende Funktion dieses *-ā hat, aber es auch Belege von Genus-Kongruenz wie “Die Infanterie war die Hauptträgerin des Kampfs im Ersten Weltkrieg” gibt.
2 Man und Mann sind nicht nur lautlich identisch, sondern auch etymologisch. Der Übergang zum Pronomen geschah in einer Zeit, als mann noch ‘Mensch’ bedeutete. Die gleiche ursprünglich neutrale Form findet sich in Zusammensetzungen wie Kaufmann, deren weibliche Formen früher ganz regelrecht daher Kaufmännin usw. waren.
3 Es gibt darüber hinaus natürlich auch eindeutige sprachliche Diskriminierung, z.B. die Ansprache der Gattin eines Arztes als "Frau Doktor" oder die Unterscheidung "Frau/Fräulein" in der Anrede. Gerade diese beiden Phänomene sind aber deutlich (und zu Recht) im Rückgang begriffen, anders als das generische Maskulinum, das weiter von den meisten Sprechern ganz natürlich verwendet wird.
Alternativen?
Doch was sind die Alternativen? Wie kann man alle drei Geschlechter klar und gleichberechtigt ausdrücken und zudem über Personen sprechen, deren Geschlecht man nicht kennt oder das nicht erheblich ist?
De-le-System
In dem Blog "De-Le-System" findet sich dafür ein ausführlich begründeter, ausgearbeiteter und dokumentierter Vorschlag. Ich setze die Kenntnis zumindest der sprachlichen Details dieses Vorschlags für die nun folgende Kurzkritik voraus. Kurz gesagt, sollen neue sexusneutrale Morpheme (de/eine Lehrer-e, le als Pronomen dazu) sowie einige neue oder modifizierte Wurzeln (Sochte = Sohn/Tochter, Leut = Mann/Frau) eingeführt werden, während das Maskulinum auf Männer festgelegt wird.
Das System ist in sich konsistent, ausdrucksstark (bezüglich Formen und Bezeichnungsleistung), würde Einiges an Unregelmäßigkeiten beseitigen und eine verlässliche Unterscheidung zwischen generischem Gebrauch und solchem für Männer erlauben. Dennoch kann ich es nicht akzeptieren, aus den folgenden Gründen:
- Es wäre typologisch seltsam, dass die kürzere und morphologisch grundlegendere Form (der Lehrer) semantisch spezifischer (männliche Person) wäre als die längere, abgeleitete (de Lehrere – jede Person).
- Das Maskulinum ist für die Wortbildung unerlässlich (Rednerpult, nicht *RednerInnenpult, nicht *Rednerepult). Hier müsste man massiv eingreifen und damit einen noch größeren Bruch erzeugen, als es sowieso schon durch das De-le-System gäbe.
- Es würde über de und le über die Sexus-Bezeichnungsleistung hinaus ein neues Genus eingeführt (das ist ja auch beabsichtigt aufgrund der angeblich zu intimen Verwobenheit von maskulinem Genus und männlichem Sexus). Die Komplexität der deutschen Flexion (v.a. des Adjektivs), die schon jetzt dem Sprachlerner große Pein bereitet, würde damit weiter erhöht.
- Es gäbe zwar nun eine klare Unterscheidung zwischen neutral, männlich und weiblich, nicht-binäre Personen könnten sich aber weiter diskriminiert fühlen, da sie keinen positiven Ausdruck für sich haben, sondern hinter der generischen Form "verstecken" müssen.
- Wie gerade erwähnt bedeutet das System keine Erweiterung des bisherigen Systems, sondern ersetzt es; es kommen nicht nur neue Formen hinzu, nein, alte werden umgedeutet. Dies gefährdet die sprachliche Kontinuität der Grammatik des Deutschen und so das Verständnis des bisherigen Sprachguts sowie die Verständigung zwischen den Menschen.
Aus diesen, teilweise zwar überwindbaren, aber dennoch gewichtigen Gründen halte ich es für unwahrscheinlich und auch für nicht wünschenswert, dass ein solches oder ähnliches System im Deutschen etabliert wird (das Passiv ist richtig, denn auch das Gendern hat sich nicht von selbst ausgebreitet, es handelt sich um eine bewusste, wenn auch nicht irgendwie zentral gesteuerte Kampagne).
Mein Gegenvorschlag
(zur theoretischen Begründung)
So weit, so (un)gut, was wäre die Alternative? Ich finde es in der heutigen Zeit wichtig, dass man 1) morphologisch einfach (also nicht umständlich durch Adjektive o.ä.) klar machen kann, wann man von Personen jeden Geschlechts spricht und wann von Männern speziell, sowie 2) einen positiven Ausdruck für das dritte Geschlecht hat. Dadurch würde das System zur Sexusbezeichnung eindeutig und symmetrisch.
Ich gehe für mein System von den folgenden Grundsätzen aus:
- Mit dem generischen Maskulinum gibt es bereits eine hervorragende Form, Personen unbekannten Geschlechts zu bezeichnen.
- Das historisch gewachsene Sammelsurium weiterer sexusneutraler Ausdrücke (Person, Kind, Wache, Mitglied, Mensch) ist zwar sprachtechnisch nicht ideal, aber zu akzeptieren. Deutsch ist keine Plansprache. Zudem schwächen diese Ausdrücke die Fehlidentifikation zwischen Genus und Sexus.
- Eine Erweiterung des Genus-Systems um ein viertes Element kommt aus Gründen der Komplexität und der Vermeidung der genannten Fehlidentifikation nicht in Frage.
- Neue Elemente sollen die alten ergänzen, aber nicht ersetzen. Dadurch sind die Verständlichkeit und die Verständigung gesichert.
Einige Sachzwänge ergeben sich aufgrund dieser m.E. wohlbegründeten Prinzipien von selbst. Für das dritte Geschlecht bleibt für diejenigen Fälle im pronominalen Bereich, wo der Sexus auf das Genus abgebildet wird (Unterhaltung für sie und ihn), nur das Genus neutrum übrig (zur Benennung der Genera s.u.). "Es" genannt zu werden, mag für viele zunächst herabwürdigend wirken, doch ist dies eine Frage der Gewöhnung, denn bei Kind, Mitglied usw. empfindet niemand das Neutrum als negativ, zudem gibt es tatsächlich auch Transgender, die es als Vorzugspronomen haben. Zur positiven Neubesetzung des Neutrum kann auch die Zuweisung des neuen Suffixes für das dritte Geschlecht (s. gleich) dienen. Auch wird es aufgrund sprachhistorischer Zufälle nicht immer möglich sein, alle Ausdrucksmittel in allen Bereichen gleich gut oder überhaupt einsetzen zu können. Natürlich ist es verlockend, bei einer Reform gleich auch ein paar harte Kanten abzuschleifen, doch ist dies in einer ethnisch, überwiegend muttersprachlich erworbenen Sprache wie Deutsch kein hinreichender Grund für ein solch starkes Eingreifen. Ich stelle mir, um eine Metapher zu verwenden, statt einer Totaloperation, die der Patient ggfls. nicht überlebt, vielmehr einen minimal-invasiven Eingriff vor.
Hauptelement meines Vorschlags sind zwei neue Suffixe, die genau da angefügt werden können, wo dies bereits jetzt mit weiblichem -in möglich ist:
- -ich, Plural -iche (nach Konsonanten) bzw. -rich, Plural -riche (nach Vokalen), Genus maskulinum, zum Ausdruck ausschließlich von Männern (Kommentar: Das Element ist aus Enterich u.a. entlehnt; es ist nicht völlig formal symmetrisch zu -in, dafür müsste man auf die Nebenform nach Vokal verzichten, aber verlöre dadurch auch den Bezug zum bereits bestehenden Suffix; -(r)ich sollte zudem auch dort eingesetzt werden können, wo die Grundform ein generisches Femininum ist, wie bei Ente -–Enterich, also auch Gazelle – Gazellerich)
- -ix, Plural -ixe, Genus neutrum, zum Ausdruck aller nicht-binären Personen (Kommentar: Dieses Suffix existiert bereits in dieser Funktion bzw. allgemeiner als sexusneutrales Suffix; hier sollte es in der Funktion enger sowie formal analog zu -in verwendet werden, also Professorix, nicht Professix mit unvorhersagbarer Wortkürzung)
Dadurch ergäbe sich folgendes Paradigma für die meisten Personenbezeichnungen im Deutschen:
Ausdruck | Form |
sexusneutral | der Lehrer |
männlich | der Lehrerich |
weiblich | die Lehrerin |
divers | das Lehrerix |
Die Genera bleiben in ihrer Funktion unangetastet, d.h., es wird weiterhin kein spezielles "sexusneutrales" Pronomen geben, da das ganze Konzept inhärent widersprüchlich wäre – die Genera sind eine lexikalische, keine semantisch begründete Formenkategorie. In erster Linie werden also weiterhin bei sexusneutralen Ausdrücken er, sie, es in Abhängigkeit vom Genus des vorausgehenden Substantivs gesetzt: der Mensch, er lacht – die Wache, sie langweilt sich – das Mitglied, es hat ein Anliegen. Bei größerer Entfernung zwischen Auslöser (Bezugsnomen) und Ziel (Pronomen), in der es eine (typologisch völlig normale) Tendenz gibt, die Genera nach einer Zuordnung zu den Sexus zu setzen, sowie im absoluten Gebrauch, soll also nun es für das dritte Geschlecht hinzutreten (Unterhaltung für sie, ihn und es). Bei einem durchgängig generischen Text bleibt nichts anderes übrig, als die formale Kongruenz durchzuhalten oder durch häufigere Setzung des Auslösers zu erneuern.
Was in jedem Fall geändert werden muss, ist die auf die primitive klassische Sprachwissenschaft zurückgehende Benennung der Genera nach den (damals zwei) Sexus. Statt von Maskulinum, Femininum und Neutrum sollte man einfach vom "ersten, zweiten und dritten Genus" sprechen, wobei sich die Reihenfolge durch deren Frequenz ergibt, nicht durch irgendwelche diskriminierenden Kriterien.
Ein scheinbar gewichtiger Einwand, nämlich dass es kein Generikum für substantivierte Adjektive wie der/die (und jetzt das) Deutsche gibt, lässt sich dadurch entkräften, dass man diese Lücke wie bisher durch den generischen Plural (die Deutschen) umschiffen kann. Zudem wird der Bedarf geringer werden, wenn man wieder selbstbewusst generisch vom Studenten sprechen kann, statt das zu Recht viel kritisierte Studierende zu verwenden.
Einen weiteren Einwand (sozusagen die Umkehrung meines letzten Arguments gegen das De-Le-System oben) könnte man gegen die Festlegung der Grundformen des ersten Genus (Ex-Maskulinum) auf den generischen Gebrauch dahingehend anführen, dass sich auch so Missverständnisse ergeben könnten, weil diese Form nun ja auch noch Männer alleine bezeichnen kann. Jedoch würde es sich hier anders als im umgekehrten Fall um kein großes Problem handeln, da die Grundform ja semantisch so weit gefasst ist, dass sie in jedem Fall Männer bezeichnen kann: Es wäre in meinem System nicht falsch, einen Mann als Lehrer zu bezeichnen (nur eben nicht spezifisch), während es im De-Le-System falsch wäre Lehrer sexusneutral zu verstehen. Tatsächlich fände ich es wünschenswert, die einfachen Grundformen möglichst häufig zu verwenden, nämlich auch bei konkreten Personen immer dann, wenn das Geschlecht nicht wichtig oder schon bekannt ist, also Sie ist Arzt (nicht Ärztin), Er ist Schüler (nicht Schülerich) usw. Von dieser Möglichkeit mache ich im Übrigen schon in meinem jetzigen Idiolekt regen Gebrauch.
Ein Problem, das sich auf die oben genannte Weise nicht lösen lässt, stellen dann nur noch die frequenten, in ihrer Zahl aber überschaubaren Fälle von Personenbezeichnungen dar, die eine männliche und eine weibliche, aber keine generische und schon gar keine nicht-binäre Form haben. Es handelt sich hierbei v.a. um Verwandtschaftsbezeichnungen wie Vater/Mutter, Herrschaftstitel wie König/Königin aber auch Mönch/Nonne und Mann/Frau. Dabei müssen nicht all diese Problem gelöst werden: Es ist unwahrscheinlich, dass in konservativen, weitgehend obsoleten Kreisen wie Adel und Priesterschaft ein großer Bedarf für generische oder nicht-binärgeschlechtliche Ausdrücke besteht. Damit bleiben v.a. die Verwandtschaftsbezeichnungen übrig. Für einige gibt es bereits jetzt neutrale Ausdrücke (das Elter, das Geschwister; vielleicht findet sich in Dialekten oder sprachgeschichtlich noch die eine oder andere Form, die als Generikum dienen könnte) sowie Umschreibungen (Kind statt Junge/Mädchen), für die noch fehlenden sind im verlinkten De-le-System weitere Wortkreuzungen vorgeschlagen worden, die man als auch wortbildungsmäßig zugängliche Generika übernehmen könnte, also z.B. für Neffe/Nichte:
Ausdruck | Form |
sexusneutral | der Niffe |
männlich | der Nifferich (Kurzform: Neffe) |
weiblich | die Niffin (Kurzform: Nichte) |
divers | das Niffix |
Dass das dritte Geschlecht "nur" eine abgeleitete Form, Männer und Frauen aber eine Simplex haben, ist m.E. ein verkraftbarer Wermutstropfen. Möglicherweise werden diese Simplizia mit der Zeit auch zugunsten der regelmäßigen Formen veralten.
Zusammenfassung
Wenn man akzeptiert, dass man nicht einerseits ein weitgehend perfektes System wie De-le schaffen und andererseits ohne massive Eingriffe auskommen kann (die selbst bei einer gewissen Akzeptanz unvorhersehbare Folgen haben können), dann ist mein hier skizziertes, noch nicht in jedem Detail ausgearbeitetes System eine Alternative, mit der man die durch geschickte Erweiterungen statt radikaler Änderungen die beiden wichtigsten "Baustellen" im Deutschen, nämlich generische Ausdrücke und positive Ausdrücke für nicht-binärgeschlechtliche Personen, lösen kann.